Sehen findet im Gehirn statt
Buchrezension von Dr. Hildegard Gruber
Iris Reckert Sehen findet im Gehirn statt
Ein orthoptischer Ratgeber für die Rehabilitation hirnverletzter Erwachsener
Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, 1. Auflage 2023
Ja, Sehen findet im Gehirn statt und nicht in den Augen. Deshalb richtet sich dieses Buch an alle Berufsgruppen, die in der Diagnose, Therapie und Rehabilitation hirnverletzter Menschen tätig sind.
Wir machen uns keine Gedanken darüber wie hoch komplex unser tägliches Sehen von der Perzeption im Auge bis zur Wahrnehmung, zur Bewusstwerdung und dem Handeln in der visuellen Szene ist. Wir machen uns erst Gedanken darüber, wenn das Sehen nicht mehr so ist wie bisher.
Iris Reckert gelingt es, das normale Sehen und die Sehfunktionseinschränkungen verständlich zu erklären und regt zu Selbstversuchen an. Die augenärztlich/orthoptische Untersuchung der visuellen Komponenten wird mit vielen Tipps und „off-label-Nutzungen“ unserer Testmaterialien bereichert, so dass auch „Experten“ noch dazu lernen können.
Die häufigsten Läsionen nach Hirnverletzungen betreffen einerseits die Augenbewegungen, andererseits das Gesichtsfeld, von Ausfällen bis zum Neglect. Davon betroffen ist bei vielen Menschen auch die Lesefähigkeit. Die ausführlichen Darstellungen der diagnostischen, therapeutischen und kompensatorischen Möglichkeiten und vor allem die lebendigen Patientenbeispiele zeugen von der umfangreichen Erfahrung der Autorin.
Im Kapitel 7 schreibt Iris Reckert über die zerebralen Sehstörungen. Leider stimmt hier die Terminologie nicht. Cerebral visual impairment (CVI) ist ein Begriff, der in der gesamten internationalen Literatur für zerebral verursachte Sehstörungen mit Beginn im Kindesalter (prä-, peri- oder postnatal) verwendet wird. Im Gegensatz dazu werden spätere Hirnschädigungen bei Erwachsenen, die mit einem Verlust bereits erworbener Sehfunktionen einhergehen, mit dem Sammelbegriff „zerebrale Sehstörungen“ oder „cerebral visual disorders“ (Zihl, Unterberger) oder neurovisuelle Störungen (Kerkhoff) bezeichnet.
Viele hilfreiche Tipps bekommen Leserinnen und Leser für die Betreuung von Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose und schließlich auch Tipps für den professionellen, menschlichen Umgang mit sehbehinderten und blinden Menschen. Die therapeutische Beziehung, der Kontakt und die spezielle Kommunikation mit Menschen, deren visuelle Welt aus den Fugen geraten ist, werden in den meisten Fachbüchern nicht erwähnt.
Menschen mit Hirnverletzungen und chronischen neurologischen Erkrankungen werden interdisziplinär behandelt, da in der Regel zur Sehstörung auch motorische, kognitive oder sprachliche Symptome hinzukommen. In diesem Buch finden alle Berufsgruppen Erklärungen für die Besonderheiten von Menschen mit zerebralen Sehschädigungen und speziell Orthoptist*innen und Augenärzt*innen eine Erweiterung ihrer diagnostischen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten.
Ein wertvolles, flüssig zu lesendes Buch mit einem kleinen terminologischen Schönheitsfehler.
Dr. Hildegard Gruber
3107 St. Pölten, Dr. A. Schärf Str. 9
02742/311332 oder 0664/4073242